Tempel des Menschensohnes
Tempel des Menschensohnes
ÜbersichtDetaillierte InfosVerwendung
- InventarnummerÖMV/35997
- Objektart
- Beschreibung
Christliche Weltsicht um 1700
Tempelarchitektur mit Kleinplastiken: Tempel mit sieben Säulen, in dessen Zentrum Christus mit ausgebreiteten Armen umgeben von sieben Leuchtern auf einer Kalotte steht, die wohl den bewohnten Teil der Erde symbolisiert.
Beschreibung:
Die heilige Zahl Sieben ist für den Aufbau des Tempels maßgeblich, sein Inhalt wird von der Offenbarung des Johannes bestimmt: sieben Prankenfüße tragen das runde Fundament, auf dem die sieben Säulen des Tempels stehen. Vor den Säulen stehen auf sieben Sockeln Heilige und zwar Maria, Petrus und Paulus als Paar, Nikolaus, Andreas, Augustinus, Katharina und Leopold. Auf den Sockeln befindet sich je ein Buchstabe, nämlich M - H - G - V - H - B - F, die außer dem M für Maria aber keinen Bezug zu den Figuren erkennen lassen, ihre Bedeutung ist daher unklar.
Zwischen den Säulen sind sieben Worte angebracht, die eine Art Balustrade bilden. Sie bezeichnen die sieben Tugenden: TIMOR DOMINI (Gottesfurcht) - INTELLECTUS (Erkenntnis) - TEMPERENTIA (Mäßigkeit) - PATIENTIA (Geduld) - LIBERALITAS (Großmut) - DEVOTIO (Ergebenheit) - CASTITAS (Keuschheit).
Auf dem von den Säulen getragenen Gesims stehen sieben Worte: SAPIENTIA AEDISCAVIT LIBERATU DORIUM EXCIDIT COLUMNAS SEPTEM (nach Spr. 9,1: Die Weisheit hat ihr Haus gebaut und ihre sieben Säulen behauen).
Die sieben Leuchter im Inneren des Tempels tragen sieben Schilder mit den Namen der sieben Gemeinden aus der Offenbarung: EPHESUS, SMYRNIA, PERGAMUM, THYATIRA, SARDES, PHILADELPHIA und LAODICEA. Vor den Leuchtern sind sieben Kartuschen angebracht. Sie enthalten die schriftlichen Ratschläge an die Gemeinden und entsprechen den Stellen 2,4-5; 2,10; 2,14-16; 2-20; 3,1-3; 3,8-11 und 3,15-19 in der Offenbarung. Diese Ratschläge korrespondieren mit sieben Engeln am Gesims der Kuppel. Diese halten Schilder vor sich, auf denen die Verheißungen an die sieben Gemeinden stehen.
Bekrönt wird die Kuppel mit einem Spruchband, das lautet: SPIRITUS SEPTEM ECCLESIIS (Der Geist den sieben Gemeinden). Der Heilige Geist, der sich über die sieben Gemeinden ergießen soll, wird durch sieben Flammen dargestellt.
Geschichte / Museum:
Der sogenannte "Tempel des Menschensohnes" stellt ein Unikat dar, jedenfalls ist bisher kein vergleichbares Objekt bekannt geworden. Unbekannt sind auch der Schöpfer dieses Kunstwerkes und der Herstellungsort. Die Kleinarchitektur entstammt jedenfalls der geübten Hand eines Schnitzers, der im Umfeld traditioneller Produktionsstätten (möglicherweise Oberammergau oder Gröden) zu vermuten ist. Zu vermuten ist auch, dass es sich um das Auftragswerk eines bibelkundigen, in der christlichen Welt verankerten Menschen handelt.
Ausschlaggebend für die Museumserwerbung dürfte aber weniger der religiöse Inhalt des Tempels gewesen sein, sondern seine Ästhetik, die ihn zu einem Objekt der Volkskunst macht. Seit der Neuaufstellung der Dauerausstellung 1994 wird der Tempel in jenem Raum präsentiert, der die Religion als Ordnungsprinzip des täglichen Lebens veranschaulicht.
Geschichte / Leben / Kontext:
Der Tempel des Menschensohnes, der um 1700 entstanden sein dürfte, verfolgt eine theologische Botschaft, der am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert ein besonderes Gewicht zukommt. Der Tempel visualisiert die Offenbarung des Johannes aus dem Neuen Testament der Bibel, und zwar konkret den Auftrag an die sieben verfolgten Gemeinden in Kleinasien, in ihrer bedrängten Lage durchzuhalten und auf die Wiederkunft Christi als Endrichter zu hoffen.
Wendepunkte, besonders zu Millennien, sind bekanntlich prädestiniert für apokalyptische Vorstellungen. Am Übergang von der Gegenreformation zur Aufklärung fand sich die katholische Kirche außerdem mit einem neuen Weltbild konfrontiert, das konträr zur bisherigen geozentrischen Auffassung stand. Das 17. Jahrhundert war geprägt von der Auseinandersetzung Roms mit dem heliozentrischen Weltbild eines Kopernikus oder eines Galileo Galilei. Wesentlichen Anteil an der Durchsetzung des neuen Weltbildes hatte auch Johannes Kepler, der die Beobachtungen von Tycho Brahe, des bedeutendsten Astronomen der Zeit, rechnerisch in Tabellen erfasste.
Nach jahrzehntelanger Arbeit war es Johannes Kepler 1627 gelungen, sein Werk, die "Tabulae Rudolphinae Astronomae", im Druck herauszubringen, dessen Titelseite ein Kupferstich ziert, der dem Künstler des "Tempel des Menschensohnes" als Vorlage gedient haben könnte. Keplers Titelkupfer zeigt nämlich ebenfalls einen Tempel mit zehn unterschiedlichen Säulen, an denen die wichtigsten Instrumente der Astronomie hängen. Die Säulen tragen die Namen der damals bekanntesten Astronomen, wovon fünf auch bildlich dargestellt sind. Darunter Tycho Brahe, der stehend auf den Plafond des Tempels zeigt, auf dem die Planetenbahnen zu sehen sind. Auf der Sockelzone des Tempels sind die Studierstube Keplers, die dänische Insel Hven, auf der Tycho Brahe sein Observatorium Uranienburg errichtet hatte, und die Werkstatt des Druckers Jonas Sauer in Ulm dargestellt, in der die "Tabulae Rudolphinae" gedruckt wurden. Hier findet sich außerdem die Signatur des Stechers Georg Keller.
Während also Kepler mit seinem "Tempel der Astronomie" gewissermaßen eine wissenschaftliche Entwicklungsgeschichte des neuen Weltbildes zeigt, verkörpert der "Tempel des Menschensohnes" die traditionelle Sicht der Kirche, bei der Christus sonnengleich im Mittelpunkt der Erde steht. Er ist laut Offenbarung derjenige, der am Ende der Zeiten als Weltenrichter auftreten werde, um die Gerechten zu erlösen. Die vor den Säulen postierten Heiligen fungieren als Fürsprecher der Menschen vor dem Throne Gottes.
Franz Grieshofer - Hersteller:in
- Entstehung
- Material
- Technik
- AbmessungenH: 78 cm D: 45 cm Figuren: H: 10 bis 18 cm
- Abbildung / Motiv
- ErwerbungsartAnkauf
- DokumentationGrieshofer, Franz: Reflexionen über den "Tempel des Menschensohnes". Eine Kleinarchitektur im Österreichischen Museum für Volkskunde. In: Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien (Hg.): Begegnungen. Festschrift für Konrad Köstlin zur Emeritierung am 30. September 2008. Wien 2008 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien 32), S. 187-203.
o.A.: Das Templum und Athanasius Kirchers Wissenschaftsverständnis. In: Vonderau Museum Fulda (Hg.): Magie des Wissens. Athanasius Kircher (1602-1680). Jesuit und Universalgelehrter. Petersberg 2003, S. 29-30.
Schmidt, Leopold: Der Tempel des Menschensohnes. Eine alpenländische Kleinarchitektur um 1700. In: Werke der alten Volkskunst. Gesammelte Interpretationen. Rosenheim 1979, S. 129-132, 158, 203 (Abb.).
Vollrath, Hans-Joachim: Der Tempel des Menschensohnes. 2002. - Weiterführende InformationenDaxelmüller, Christoph: Die Welt als Einheit. Eine Annäherung an das Wissenschaftskonzept des Athanasius Kircher. In: Horst Beinlich (Hg.): Magie des Wissens. Athanasius Kircher 1602 - 1680. Universalgelehrter, Sammler, Visionär. Dettelbach 2002, S. 27-48.
Wacha, Georg: Der kaiserliche Mathematiker Kepler und Linz. In: Wilfried Seipel (Hg.): Mensch und Kosmos. OÖ. Landesausstellung 1990. Bd. 1. Linz 1990, S. 93-113, hier S. 103.
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