113 Digitalisate in Alben Lichtermeer
113 Titel

Das Lichtermeer war ein Meer – und das Meer ist unbesiegbar.


Mit diesen eindrucksvollen Worten kommentierte Friedrich „Fritz“ Verzetnitsch, damaliger Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB), eines der größten zivilgesellschaftlichen Ereignisse der Zweiten Republik: das sogenannte Lichtermeer, das am 23. Januar 1993 in Wien stattfand.

Bis zu 300.000 Menschen versammelten sich auf dem Heldenplatz und in den angrenzenden Straßen des 1. Bezirks, um mit Kerzen, Fackeln und stiller Präsenz ein starkes Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und eine zunehmend polarisierende, weil sich immer weiter verschärfende, Migrationspolitik zu setzen.

Menschenmenge während der Demonstration Lichtermeer auf dem Heldenplatz in Wien, 23. Jänner 1993, pos/68439/066Volkskundemuseum Wien / Foto: Franz Grieshofer, CC ZERO 1.0
 



Auch das Volkskundemuseum Wien verstand sich in diesem Moment als gesellschaftlich und demokratisch engagierte Institution. Die Gelegenheit, dieses bedeutende Ereignis aus nächster Nähe zu dokumentieren, wurde aktiv genutzt. Mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses machten sich – teils mit dienstlicher, teils mit privater Ausrüstung – auf, um das Geschehen fotografisch festzuhalten. Im Fokus standen die Teilnehmenden, das Lichterbild, die Atmosphäre sowie verteilte Materialien des Organisators SOS Mitmensch.

Das erhaltene Material umfasst heute Streifennegative, Kontaktabzüge und Positive sowie acht Postkarten und einen Aufkleber. Die Fotografien stammen von den damaligen Museumsmitarbeiterinnen und Museumsmitarbeitern Bernhard Tschofen (pos/68439/001–015), Margot Schindler (pos/68439/016–028) und Franz Grieshofer (pos/68439/029–067).


Reaktion auf das Volksbegehren Österreich zuerst

Die Demonstration war eine unmittelbare Antwort auf das von der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) initiierte Volksbegehren Österreich zuerst, das unter der Führung des rechtspopulistischen Partei- und Klubobmanns der FPÖ Jörg Haider einen drastischen Einwanderungsstopp sowie weitere restriktive Maßnahmen in der Asyl- und Zuwanderungspolitik forderte. Als Vorbild dienten die Lichterketten in deutschen Großstädten, die ein Jahr zuvor als Reaktion auf rechtsextreme Gewalt stattgefunden hatten.


Breite gesellschaftliche Allianz

Getragen wurde das Lichtermeer von der überparteilichen Initiative SOS Mitmensch, deren Ziel es war, den gesellschaftlichen Diskurs hin zu Toleranz, Menschlichkeit und Solidarität zu verschieben und zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen rechte und restriktive Politik zu demonstrieren. Unterstützt wurde die Initiative von Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Künstlerinnen und Künstlern und Intellektuellen. Zu den zentralen Mitinitiatorinnen und Mitinitiatoren zählten unter anderem der Musiker und Menschenrechtsaktivist Willi Resetarits, der Schriftsteller Josef Haslinger, der damalige Caritas-Präsident und Pfarrer Helmut Schüller sowie die ÖVP-Politikerin Marilies Flemming.

Ein besonderes Kommunikationsmittel stellte die von Reinhard Eberhart für SOS Mitmensch gestaltete Postkarten-Serie „Wir Ausländer …“ dar, die während der Veranstaltung verteilt wurde. Diese spielte humorvoll und pointiert mit Vorurteilen und stellte Fragen nach Zugehörigkeit, Vorannahmen und gesellschaftlicher Identität. Das Museum besitzt insgesamt acht Postkarten dieser Reihe mit unterschiedlichen Motiven (pos/68439/068-075).


Wirkung und Nachhall

Das mediale Echo auf das Lichtermeer war überwältigend positiv. Die Demonstration wurde als kraftvolles, friedliches Zeichen der Zivilgesellschaft für demokratische Grundwerte gewürdigt. Auch auf politischer Ebene zeigte die Veranstaltung Wirkung: Das Volksbegehren Österreich zuerst erreichte mit 416.531 Unterschriften deutlich weniger Unterstützung als von der FPÖ erwartet.

Langfristig trug das Lichtermeer zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen bei. Organisationen wie das Integrationshaus oder die Armutskonferenz entstanden im Anschluss und das Ereignis beeinflusste die politische Debatte über Menschenrechte, Integration und gesellschaftliche Teilhabe nachhaltig. In der Demokratiegeschichte Österreichs nimmt das Lichtermeer heute einen festen Platz als Symbol für den Widerstand gegen rechtspopulistische Tendenzen ein.


Eine zweite Chance: Ausstellungsperspektiven 2026

Die ursprüngliche Absicht des Volkskundemuseum Wien im Jahr 1993 war, die entstandenen Aufnahmen in eine wenige Jahre später geplante Neukonzeption der Dauerausstellung einzubinden. Sie sollten im Rahmen eines kleineren Forschungsprojekts zur Alltagskultur und politischen Beteiligung als visuelle Quelle in ein wissensgeschichtliches Präludium eingefügt werden, das neue Zugänge zur jüngeren Demokratiegeschichte eröffnen sollte. Die Umsetzung dieses Konzepts blieb allerdings aus. Das Material wurde archiviert, aber nicht museal aufgearbeitet oder ausgestellt. Es blieb ein ungenutztes Zeitdokument – bis jetzt.

Im Zuge der geplanten Neueröffnung des Museums 2026 wurde das Projekt nun wieder aufgegriffen. Die Dokumente wurden systematisch erschlossen, kontextualisiert und museal integriert. Ziel ist es, sie nicht nur als historische Quelle zu präsentieren, sondern auch als Ausgangspunkt für eine gesellschaftsgeschichtliche Reflexion über Formen des Protests, der zivilen Mobilisierung und der politischen Teilhabe in den 1990er Jahren.

Damit erhält das Lichtermeer – mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Entstehen – eine neue Sichtbarkeit im institutionellen Gedächtnis. Die geplante museale Auseinandersetzung und die Einbettung in die Onlinesammlung machen deutlich, dass Demokratiegeschichte nicht nur in Parlamentsreden, sondern auch auf öffentlichen Plätzen mit Kerzenlicht geschrieben wird.


Tamara Hauer

Sammlungsmanagement Fotosammlung

28. April 2025